Cover
Titel
Energy and Power. Germany in the Age of Oil, Atoms, and Climate Change


Autor(en)
Gross, Stephen G.
Erschienen
Anzahl Seiten
408 S.
Preis
£ 35.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rüdiger Graf, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Mit seiner gut lesbaren und thesenstarken Studie über „Energy and Power“ leistet der US-amerikanische Historiker Stephen Gross einen wichtigen Beitrag sowohl zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland als auch zum jüngst rasant wachsenden Feld der Energiegeschichtsschreibung.1 Ausgehend von der Bedrohung des Klimawandels untersucht er zum einen, „how the consumption of massive amounts of energy has become naturalized, and with it the accompanying volumes of carbon emissions that are changing our environments” (S. 6). Auf diese Weise sollen die politischen, ökonomischen und sozialen Bedingungen und Konsequenzen des steigenden Energieverbrauchs in die Meistererzählungen der westdeutschen und -europäischen Nachkriegsgeschichte integriert werden, wo sie bisher zumeist keine Rolle gespielt haben.2 Zum anderen richtet sich Gross gegen die simplifizierende Annahme, Veränderungen von Energiesystemen und deren Entwicklung resultierten wesentlich daraus, dass neue Energieträger bestimmte Leistungen günstiger und effizienter erbrachten. Die gegenwärtig international viel diskutieren „energy transitions“ begreift er stattdessen als „actively made by the interaction of markets, states, and social groups.”(S. 9)3 Am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland zeigt seine differenzierte Analyse überzeugend, dass der Aufstieg des Öls, der Kernkraft, des Energiesparens, des Erdgases und der erneuerbaren Energien neben ökonomischen und technischen Faktoren jeweils auch von einer komplexen Mischung aus kulturellen Praktiken, sozialen Institutionen, politischen Einrichtungen und Konflikten sowie geopolitischen Verhältnissen bestimmt wurden.

Die sogenannte Energiewende, in der – im Unterschied zu früheren Transitionen – nicht nur ein weiterer Energieträger hinzutreten, sondern die Produktion von Energie aus fossilen Quellen durch erneuerbare Energiequellen ersetzt werden soll, bildet den Fluchtpunkt von Gross‘ Erzählung, die er damit bis in die unmittelbare Gegenwart führt. Dementsprechend interessiert er sich analytisch vor allem für die Bedingungen des Durchbruchs neuer Energieträger und weniger für die Persistenz der alten, die jüngst in der Energiegeschichte viel Beachtung gefunden hat.4 Das zeigt auch schon der Untertitel, in dem die Kohle nicht erwähnt wird, obwohl sie die energiepolitischen Debatten bis in die 1970er-Jahre bestimmte und durch die Kohleverstromung bis heute von großer Bedeutung ist. Etwas irreführend ist hingegen die fehlende Spezifizierung auf Westdeutschland: Die Energiewirtschaft der DDR spielt im Buch keine Rolle und wird nur retrospektiv erwähnt, wenn es um die Energiepolitik der 1990er-Jahre geht.

Die besondere Leistung von Stephen Gross besteht darin, dass er mit „Energy and Power“ ein Deutungsangebot für die Grundlinien der bundesrepublikanischen Energiegeschichte entwirft, indem er sie aus dem Zusammenwirken von politischen Interessen, materiellen Bedingungen und energiewirtschaftlicher Expertise erklärt. Gestützt auf veröffentlichte Quellen der Bundesregierung, des Bundestags und der wirtschaftswissenschaftlichen Institute sowie die Überlieferung des Bundesarchivs und der Parteiarchive sieht Gross die Entwicklung der Energiepolitik und -wirtschaft in der Bundesrepublik wie auch in anderen Ländern wesentlich durch den Konflikt zwischen zwei verschiedenen Paradigmen bestimmt. Auf der einen Seite habe sich im Nachkriegsboom das Kopplungsparadigma („coupling paradigm“) herausgebildet, das besagt, dass wirtschaftliches Wachstum nur auf der Basis einer preiswerten und gleichermaßen wachsenden Energiebasis möglich ist. Auf der anderen Seite sei dann aber seit den 1970er-Jahren zunehmend die Position vertreten worden, dass Wohlstandssteigerungen auch erreicht werden können, wenn der Energieverbrauch nicht steigt oder sogar sinkt. Dieses Paradigma der „ökologischen Modernisierung“, argumentiert Gross, war in der Bundesrepublik besonders wirkmächtig – vor allem auch im Vergleich zu den USA.

Der Grundthese entsprechend gliedert Gross seine Studie in zweimal fünf chronologische, sich aber teilweise überlappende Kapitel. Die ersten fünf Kapitel analysieren die Ausbildung und Erosion des alten Paradigmas von den 1950er-Jahren bis zur ersten Ölkrise 1973/74. Diese sieht Gross zu Recht als den entscheidenden Wendepunkt der Energie(politik)geschichte und beschreibt in den anschließenden fünf Kapiteln den Aufstieg des neuen Paradigmas der ökologischen Modernisierung. Energiegeschichtlich wurden die Jahrzehnte des Booms durch den zunehmenden Ölverbrauch geprägt, dessen Anteil am Primärenergieverbrauch von 11 Prozent im Jahr 1957 auf 55,4 Prozent 1972 stieg. Mit dem Ölkonsum wurde die Bundesrepublik nicht nur in einen globalen Energiemarkt integriert, sondern es änderten sich auch die Lebens- und Arbeitsformen rasant, wie Gross luzide aufzeigt. Der Aufstieg des Öls wurde seiner Ansicht nach durch die Auffassung ermöglicht, im Überfluss vorhandene billige Energie bilde die Grundlage für wirtschaftliches Wachstum. Dementsprechend habe Ludwig Erhardts liberale Energiewirtschaftspolitik Westdeutschland zum „least protected market“ für Erdöl gemacht (S. 32, 82). Dass die „energy transition“ von der Kohle zum Öl zu massiven sozialen Verwerfungen und Konflikten führte, sei in Kauf genommen worden: „Where coal spoke of fairness, covering costs, and maintaining employment, oil spoke of consumerism, productivity, exports, and efficiency“ (S. 34).

Die Krise des Steinkohlenbergbaus Ende der 1950er-Jahre war für Gross auch deshalb entscheidend, weil sie zu der groß angelegten „Untersuchung über die Entwicklung der gegenwärtigen und zukünftigen Struktur von Angebot und Nachfrage in der Energiewirtschaft der Bundesrepublik“5 unter anderem durch das Energiewirtschaftliche Institut der Universität Köln und das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung führte und damit die energieökonomische Expertise stärkte. Energieökonomen hätten seitdem in der Bundesrepublik als „handmaiden of the state“ fungiert, indem sie die Energiewirtschaft als einen besonderen Sektor und Energie als öffentliches Gut definierten, das besonderer politischer Aufmerksamkeit bedurfte (S. 69). Im Unterschied zu ihren US-amerikanischen Kollegen hätten die bundesdeutschen Energieökonomen die Energiewirtschaft nicht dematerialisiert begriffen und natürlichen Ressourcen insgesamt eine höhere Bedeutung beigemessen. Besonders deutlich wurde die starke Rolle des Staates in der Energiewirtschaft bei der Entwicklung der bundesdeutschen Atomindustrie, die Gross im Einklang mit der Forschung als technokratisches Projekt beschreibt, das nicht möglich gewesen wäre ohne staatliche Finanzierung, Organisation und Risikogarantie.

Die Bedeutung der Ölkrise von 1973/74 sieht Gross vor allem darin, dass sie das „coupling paradigm“ zerstört und das Bewusstsein dafür gestärkt habe, dass Energieträger substituiert werden können und die Relation von Energieverbrauch und Wirtschaftswachstum variabel ist: „Not only did West Germany‘s economy substitute coal and gas for oil at the height of the embargo, it did the unthinkable. Between 1973 and 1977 West Germany's economy seemed, tentatively, at least, to decouple, and to do so far more than its neighbors” (S. 148). Aufgrund dieser Beobachtung sei Energiesparen zum politischen Programm und weit über die Ökologiebewegung hinaus anschlussfähig geworden. Hier zieht Gross eine lange Linie von den Vorstellungen der Grünen und des Freiburger Öko-Instituts über das Konzept einer ökologischen Modernisierung und der Förderung erneuerbarer Energien unter Rot-Grün bis zur gegenwärtigen Energiewendediskussion. Im Unterschied zu den USA, wo „neoliberale“ Ideen eines Emissionshandels entwickelt wurden, sei es in der Bundesrepublik in den 1980er-Jahren populär geworden, den Energieverbrauch durch Preissteigerungen zu reduzieren, letztlich also durch eine Ökosteuer.

Die 1980er-Jahre erscheinen damit bei Gross als eigentliches Jahrzehnt der Umwelt, in der auch der Umweltflügel der CDU stärker und der Klimawandel als Problem ernstgenommen wurde. Allerdings hätten die Grünen erfolglos versucht, die regionalen Stromversorgermonopole aufzubrechen, die noch auf das Energiewirtschaftsgesetz von 1935 zurückgingen, um die Chancen der erneuerbaren Energien zu verbessern. In den 1990er-Jahren sei dann das alte Paradigma wieder dominant geworden, indem immer mehr Gas aus der ehemaligen Sowjetunion importiert wurde. Um die Jahrtausendwende habe die rot-grüne Regierung jedoch die Ideen der ökologischen Modernisierung umgesetzt. Mit dem Atomausstieg, der Förderung von Solarenergie und dem Erneuerbare-Energien-Gesetz seien die „grünen Energien“ entfesselt worden: „In an age of neoliberalism, Germany launched this Energiewende through state-guided market creation, pure and simple“ (S. 294). Trotz dieses Erfolgsnarrativs fällt Gross‘ anschließendes Urteil über die deutsche Energiepolitik ambivalent aus: Die ökologische Steuerreform wurde ausgebremst, die erneuerbaren Energien wurden als zu kostspielig kritisiert und die Dekarbonisierung des Energiesektors schritt langsamer voran als in Frankreich oder Großbritannien, weil in der Stromerzeugung weiterhin auf Kohle und Gas gesetzt wurde.

Durch die Konstruktion der zwei grundlegenden Paradigmen gelingt Gross eine beeindruckende Synthese von sieben Jahrzehnten bundesdeutscher Energiewirtschaft und -politik. So überzeugend gerade seine Ausführungen zu den Entwicklungen in der Energieökonomik und der politischen Ökonomie sind, hat die Zuordnung wissenschaftlicher und politischer Konflikte auf die zwei Paradigmen aber auch Kosten. So kann man im Detail berechtigterweise fragen, ob die Hegemonie des Kopplungsparadigmas vor 1973 tatsächlich so unumschränkt war, wie Gross behauptet. Genauso waren auch die Lehren, die aus der Ölkrise gezogen wurden, vielfältiger: In verschiedenen Bereichen erwies sich die Preiselastizität des Energieverbrauchs beispielsweise als deutlich geringer, als man zuvor angenommen hatte. Für die Zeit ab den 1980er-Jahren überschätzt Gross zudem die Bedeutung des Konzepts der ökologischen Modernisierung und generalisiert zu sehr. Wie schon in den Kapiteln zu den vorangegangenen Jahrzehnten tendiert er dazu, die Position einer bestimmten Gruppe von Energieökonomen zur Meinung der deutschen Wirtschaftswissenschaft zu Energiefragen insgesamt zu machen.

Darüber hinaus würde ich Gross‘ Einschätzung differenzieren, dass Energie schon in den 1950er-Jahren zur ökonomischen und politischen Zentralkategorie wurde, mit der Kohle, Öl, Gas und Atom zusammen gedacht und politisch diskutiert wurden. Während diese Gedanken zwar von den Energieökonomen entwickelt wurden, setzte sich eine systematische Energiereflexion und -politik doch erst mit den Energieprogrammen der 1970er-Jahre durch. Diese Einwände schmälern jedoch nicht die synthetische Leistung von Gross, der mit „Energy and Power“ eine wichtige Grundlage dafür geschaffen hat, die Energieschichte besser in die allgemeine Zeitgeschichte zu integrieren, und wesentliche Aspekte der Vorgeschichte der heutigen Energiewendediskussion analytisch durchdringt.

Anmerkungen:
1 Einführend zur Energiegeschichte Rüdiger Graf, Energy History and Histories of Energy Version: 1, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 29.08.2023 https://docupedia.de/zg/graf_energy_history_v1_en_2023 (04.12.2023). In der Danksagung des Buches werde ich freundlicherweise erwähnt, bin aber nicht intensiver an seiner Entstehung beteiligt gewesen als durch die Teilnahme an einem Panel auf der Konferenz der German Studies Association 2017 in Atlanta, das Stephen Gross organisiert hat.
2 Siehe in diesem Sinne jüngst auch Astrid Kander / Paolo Malanima / Paul Warde, Power to the people. Energy in Europe over the last five centuries, Princeton 2013; Henning Türk, Treibstoff der Systeme. Kohle, Erdöl und Atomkraft im geteilten Deutschland, Berlin 2021.
3 Siehe zu energy transitions grundsätzlich Vaclav Smil, Energy transitions. History, requirements, prospects, Santa Barbara, CA 2010; Stephen Gross / Andrew Needham (Hrsg.), New energies. A history of energy transitions in Europe and North America, Pittsburgh, PA 2023.
4 David Edgerton, The shock of the old. Technology and global history since 1900, London 2006; Christian Zumbrägel, Viele Wenige Machen ein Viel. Eine Technik- und Umweltgeschichte der Kleinwasserkraft (1880-1930), Boston 2018.
5 Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute, Untersuchung über die Entwicklung der gegenwärtigen und zukünftigen Struktur von Angebot und Nachfrage in der Energiewirtschaft der Bundesrepublik unter besonderer Berücksichtigung des Steinkohlebergbaus. Auf Beschluß des Deutschen Bundestages vom 12. Juni 1959 durchgeführt. abgeschlossen und vorgelegt 1961, Berlin 1962.

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